Interview mit Patrick Rammerstorfer
Pandemie, Energiekrise, Klimakatastrophe, Fachkräftemangel, Lieferengpässe – nicht nur privat, sondern auch in Organisationen stehen wir vor zuvor ungeahnten Herausforderungen. Doch gerade das Ungewisse birgt ganz neue Potenziale, sagt Innovationsexperte und proactive-Founder Patrick Rammerstorfer. Im Interview erzählt er, wie Organisationen und UnternehmerInnen Krisen gewinnbringend nützen und vertrauensvoll in die Zukunft blicken können.
proactive: Stichwort neue Arbeitswelten: Wie hat sich die Pandemie auf ohnehin schon unstete Zeiten ausgewirkt?
Patrick Rammerstorfer: Die Coronakrise, aber auch der Klimawandel, Krieg in Europa und weitere gesellschaftliche Herausforderungen haben das Potenzial noch mehr Spaltung und Unsicherheit in Wirtschaft und Gesellschaft zu bringen. Viele Menschen und Unternehmen beharren aus Unsicherheit und Sorge noch vehementer auf ihren Standpunkten, und diese Starre führt zu weniger Flexibilität im Denken und Handeln.
Bisher sprach man in diesem Zusammenhang von VUCA-Welten: VUCA setzt sich als Akronym aus seinen vermeintlichen Merkmalen „volatility“ („Volatilität“), „uncertainty“ („Unsicherheit“), „complexity“ („Komplexität“) und „ambiguity“ („Mehrdeutigkeit“) zusammen. Durch die oben genannten Faktoren setzt sich seit 2020 ein neues Framework durch: Das BANI-Modell, das sich aus brittle (brüchig), anxious (ängstlich), non-linear (nicht-linear), incrompehensible (unverständlich) zusammensetzt und die aktuelle Stimmung sehr gut einfängt.
„Je unsicherer die Zeiten, umso wirksamer und wichtiger ist es, sich mit alternativen Zukünften zu befassen.“
Patrick Rammerstorfer
Wie ist es dennoch möglich, ganz neue Visionen und Strategien zu entwickeln und diese auch umzusetzen?
Eine der wirksamsten Herangehensweisen ist die Implementierung von Foresight Thinking & Practice in Kombination mit systemischem Denken: Ein Denkkonzept & Framework, das viele Tools und Methoden beinhaltet, mit deren Hilfe man sich ideal auf mehrere, alternative Zukünfte vorbereiten kann – es gibt keine einzelne Zukunft „da draußen“, die man vorhersagen kann, sondern eben viele alternative Zukünfte, die bis zu einem gewissen Grad antizipiert und bereits “vorerfahren” werden können. Dadurch lernen wir flexibel zu denken und zu handeln. Und das gibt uns auch mental wieder viel Handlungsfreiheit zurück, indem wir realisieren: Wir sind es, die die Zukunft gestalten. So kommen wir von einem reaktiven in ein pro-aktives Verhalten.
In unsicheren Zeiten, wie wir sie jetzt erleben, ist ein linearer Strategieprozess eigentlich fahrlässig – man sollte immer mehrere alternative Zukünfte parat haben.
Kannst du den Ansatz näher ausführen?
Wie erwähnt geht es im Kern bei Foresight Thinking & Practice darum, dass alle möglichen bzw. alternativen Zukünfte eines Unternehmens entwickelt werden – positive wie auch negative Szenarien. Je klarer die Vorstellung der gewünschten Zukunft ist, umso genauer weiß man, was heute und morgen zu tun ist, um dort hinzugelangen. Es wird dann deutlich: Wohin möchte ich als Unternehmen und was können alle Beteiligten tun, um dort hinzukommen. Wir agieren sozusagen von der Zukunft aus in Richtung Gegenwart.
Und natürlich geht es uns auch um ein “zukunftspositives” Mindset. Wir sind – vor allem in Mitteleuropa – großartig darin, sehr lustvoll über die Vergangenheit zu reden. „Weißt du noch, wie das damals war?“ ist ein Satz, der häufig fällt und wir erinnern uns liebend gerne an frühere Zeiten. Ich denke, dass Teams aber auch lernen sollten, mindestens genauso lustvoll über die Zukunft zu reden. Denn das nimmt die Angst und Unsicherheit vor Veränderungen und stärkt die Vorstellungskraft – eine der wichtigsten Kompetenzen der 20er-Jahre. Dadurch festigt sich der Gedanke: Veränderung ist an sich nichts Schlimmes, sondern etwas Gutes. Sobald ich das verinnerlicht habe, kann ich Veränderungen auch aktiv mitgestalten.
Foresight Practice sagt nicht die Zukunft voraus, sondern viele alternative Zukünfte – und ermöglicht Personen und Organisationen, sich optimal auf diese vorzubereiten und entsprechend zu entwickeln.
Nur, wenn wir wissen, was für eine Zukunft wir uns wünschen, können wir heute die richtigen Schritte setzen. (Foto: Max Böhme/Unsplash)
Was macht Foresight Thinking & Practice so speziell und interessant?
Das Spannende daran ist der Denkrahmen, ein Framework an Methoden, Tools und Werkzeugen, mit denen ich agieren kann – es ist eben ein anderes Mindset, das man entwickelt, wenn man es des Öfteren praktiziert.
Der Unterschied zu klassischen, linearen Strategieprozessen ist, dass es nicht nur eine mögliche Zukunft gibt, sondern dass man alternative Zukünfte entwickelt, was besonders in einer Zeit, die von großer Unklarheit und Unsicherheit geprägt ist, von enormer Bedeutung für Unternehmen ist. Foresight Practice ist eine hervorragende Möglichkeit, in Zeiten der Unsicherheit mehr Sicherheit zu generieren.
Stichwort Mitarbeiter*innen: Wie gelingt es, Foresight Prozesse in den Arbeitsalltag einzubinden?
In erster Linie muss das Thema natürlich auf Führungsebene verankert sein. Es braucht nicht unbedingt eine Innovationsabteilung – wichtig ist, eine Kultur anzustoßen, in der Mitarbeiter*innen gerne und lustvoll ihre Nasen in den Wind der Zukunft halten und anschließend auch festgehalten wird, welche Signale gerade spür- und sichtbar sind, die eine Relevanz für das eigene Unternehmen haben könnten. Regelmäßige Gesprächsrunden und ein fundierter Austausch zu diesen Signalen ist auch wichtig, damit sie nicht einfach nur in irgendeiner Datenbank verstauben.
„Wichtig ist, eine Kultur anzustoßen, in der Mitarbeiter*innen gerne und lustvoll ihre Nasen in den Wind der Zukunft halten.“
Patrick Rammerstorfer
Wie machen sich erfolgreiche Foresight Prozesse im Team bemerkbar?
Erstens: Ein Zugewinn an ermotionaler & psychologischer Sicherheit – das gesamte Team fühlt sich besser auf Unsicherheiten vorbereitet.
Zweitens: Gerüstet & flexibel sein – alle Beteiligten entwickeln das Gefühl das notwendige Rüstzeug zu haben – nach dem Motto „egal was kommt, wir können flexibel auf Veränderungen reagieren”.
Drittens: Frühzeitiges Agieren – regelmäßige Blicke in alternative Zukünfte ermöglichen proaktives Handeln und minimieren ein reines Reagieren auf die Umstände.
Das Ganze ist allerdings kein Sprint, sondern ein Marathon – es handelt sich um eine Weiterentwicklung von Mindset und Kultur und das ist eben nun mal kein lineares, planbares Vorgehen und braucht Mut, Experimentierfreude, Offenheit und eine Menge an Resilienz.
Kannst du uns abschließend ein heimisches Unternehmen nennen, das bereits erfolgreich mit Foresight Thinking arbeitet?
Ein Best Practice Beispiel hat hier das Convention Bureau Oberösterreich des Oberösterreich Tourismus geliefert: In einem Foresight Thinking Prozess wurden unter Einbindung vieler Betroffener unterschiedliche Szenarien entwickelt und mögliche Maßnahmen abgeleitet, wie Veranstaltungen und Tagungen in 12 bis 16 Monaten und darüber hinaus ablaufen könnten.
Dazu ein Statement von Ingrid Pichler, Convention Bureau OÖ: „Die Foresight Methode hat uns in unserem interdisziplinären Prozess unterstützt, unterschiedliche Zukunftsszenarien für die Tagungsbranche aufzustellen und hierfür innovative Maßnahmenvorschläge zu erarbeiten. Dabei haben sich Themen herauskristallisiert, die bereits in naher Zukunft umsetzbar sind, andere Ideen haben wir für später in petto. Patricks aktive Begleitung und sein kritisches Hinterfragen hat alle Beteiligten zu kreativem, unkonventionellem Denken inspiriert. Die Ergebnisse sind als Ideenpool zur Unterstützung der oberösterreichischen Tagungsbranche in unserem Szenario-Report zu finden.“
Danke für das Gespräch!
(Fotos: Florian Voggeneder)