“Offener Austausch über Zukunftsszenarien kann Unsicherheit reduzieren” – Dr. Melanie Wiener

Interview mit Dr. Melanie Wiener über Foresight

Es gibt nicht viele Menschen in Österreich, die so viel über Foresight wissen, wie Dr. Melanie Wiener. Deshalb haben wir sie als externe Partnerin zu proactive geholt und arbeiten gemeinsam an spannenden Projekten. Wir haben Melanie zum Gespräch gebeten und gefragt, warum Organisationen sich unbedingt mit der Zukunft beschäftigen und sich nach Außen hin öffnen sollten.

proactive: Melanie, wir kennen dich ja als tolle Kollegin. Kannst du dich bitte kurz den Leser*innen vorstellen?

Melanie Wiener: Natürlich, gern! Nach meinen Abschlüssen in den Studienrichtungen Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaftspädagogik sowie Sport- und Eventmanagement habe ich zunächst in der Privatwirtschaft gearbeitet. 2014 bin ich an die Johannes Kepler Universität Linz zurückgekehrt und habe am Institut für Strategisches Management promoviert. Damals habe ich an einem ersten Foresight-Projekt in Kooperation mit dem Linz Center of Mechatronics mitgearbeitet. Das Thema hat mich gleich so gepackt, dass ich meine Doktorarbeit über Open Foresight geschrieben habe.

Im Anschluss war ich am Institut für Integrierte Qualitätsgestaltung tätig – und befasse mich seither auch intensiv mit Qualitätsmanagement und Circular Economy.

Für das Stiftungsinstitut von Quality Austria durfte ich ein Open Foresight Projekt leiten, das sich mit der Frage beschäftigt hat: Wie sieht das Qualitätsverständnis 2030 aus? An diesem Projekt haben 10 Firmen aus dem B2B- und B2C-Bereich, aber auch aus dem Pflege- und Gesundheitssektor teilgenommen.

Aktuell bin ich weiterhin in Lehre und Forschung für das Institut für Strategisches Management tätig. Unter anderem frage ich mich in meiner Forschungsarbeit, warum manche Unternehmen viel besser performen, viel nachhaltiger arbeiten als andere. Welche Thesen man daraus ableiten kann, um anderen Firmen dabei zu helfen, den gleichen oder einen ähnlichen Weg zu gehen.

Klären wir zuerst die Basics: Was ist Foresight eigentlich?

Foresight bedeutet – vereinfacht ausgedrückt, dass man sich einmal vom Alltag löst und bewusst in die Zukunft schaut. Und zwar nicht ins nächste Quartal oder Jahr – wie bei Forecasts – sondern weiter nach vorne. Man fragt sich: Wie könnte unsere Zukunft denn in fünf bis zehn Jahren aussehen?

Eine wichtige Rolle spielen dann zum Beispiel sogenannte “weak signals” – also Signale für bestimmte Entwicklungen, die bisher nur leicht spürbar sind. Dann gilt es zu hinterfragen: Was davon könnte wirklich ein relevanter Trend werden? Was bleibt vielleicht ein kurzer Hype? Das ist notwendig, damit man als Unternehmen genug Vorlaufzeit hat, um sich darauf vorzubereiten. Also z.B. die Fähigkeiten und Kompetenzen, die man dann dafür braucht, um diesen Trend zu adressieren, bereits rechtzeitig bei den Mitarbeiter*innen aufzubauen. So kann man anderen einen wichtigen Schritt voraus sein.

„Wichtig ist zunächst, dass man sich nicht nur auf technologische Entwicklungen fokussiert – was lange üblich war. Trends sind übergreifend miteinander verbunden.“

Dr. Melanie Wiener

Wie geht man dabei konkret vor?

Wichtig ist zunächst, dass man sich nicht nur auf technologische Entwicklungen fokussiert – was lange üblich war. Trends sind übergreifend miteinander verbunden. Technologische und soziale Entwicklungen gehen oft Hand in Hand. So hat etwa der technologische Fortschritt eine Sharing Economy ermöglicht. Das hat auch damit zu tun, dass sich die Einstellung der Jüngeren verändert hat: Sie hängen nicht mehr so sehr am Eigentum und Eigentum als Statussymbol hat auch an Relevanz verloren.

Es ist also wichtig, dass man sich als Organisation in verschiedene Richtungen öffnet und schaut: Was tut sich auf der technologischen Seite? Was im rechtlichen und im sozialen Bereich? Was in Sachen Umwelt und Sustainability? Für diese Suche nach weak signals und Trends stehen unterschiedliche Methoden zur Verfügung. In der Praxis hat sich eine Kombination von quantitativen und qualitativen Methoden etabliert. Eine Möglichkeit mit der proactive arbeitet, ist es, mittels künstlicher Intelligenz Datenbanken, sowie mehr oder weniger das gesamte Internet zu durchforsten, um so frühzeitig Entwicklungen aufzuspüren.

Um diese Entwicklungen dann zu interpretieren, ziehen wir dann oft auch andere Unternehmen hinzu. Warum sollte man nicht die schlauen Köpfe in anderen Organisationen mit ins Boot holen, um sich mit ihnen auszutauschen und zu reflektieren? Dann kann man etwa die Trends aus Datenbanken miteinander diskutieren: Müssen wir das ernst nehmen? Oder ist das eine Blase, die bald platzen wird?

Meiner Erfahrung nach ist es sehr wichtig, dass man dabei auch mit Branchenfremden spricht. Denn man selbst wird unglaublich schnell branchenblind.

Nur, wenn wir wissen, was für eine Zukunft wir uns wünschen, können wir heute die richtigen Schritte setzen. (Foto: Max Böhme/Unsplash)

Da kommen wir zu einem weiteren wichtigen Punkt: Welche Fehler werden denn aus deiner Sicht in Unternehmen noch oft gemacht, wenn es um Foresight und Zukunftsstrategien geht?

Branchenblindheit ist ein wichtiges Thema. Denn als Menschen neigen wir dazu, Bestätigung zu suchen. Das bedeutet, dass wir uns lieber mit Trends befassen, die unsere eigenen Annahmen oder Wünsche bestätigen. Jene Entwicklungen, die unser Geschäftsfeld oder vielleicht sogar den eigenen Job in Frage stellen, die wollen wir lieber übersehen. Dann denken wir uns lieber: “Ach, das wird nicht kommen… jedenfalls nicht, bevor ich in Pension bin.”

Da ist es dann wichtig, dass jemand anderes sagt: “Hey, ich würde da genauer hinschauen und das ernst nehmen!” Man braucht Menschen, die einen aus der Komfortzone stupsen. Außerdem haben Branchen ganz unterschiedliche Geschwindigkeiten. Die Digitalisierung ist z.B. in manchen Sektoren deutlich weiter fortgeschritten als in anderen. Gleiches gilt für Nachhaltigkeit, wo der Druck im Consumer Bereich einfach höher ist. Da kann man von den anderen viel lernen.

Wie antwortest du auf eine Frage, die wir ziemlich oft hören: “Woher weiß ich denn, ob das dann genau so eintritt?”

Es geht gar nicht darum, dass ich die Lottozahlen genau voraussage. Wir wissen nicht, was kommt. Aber, wenn ich mich mit verschiedenen Szenarien beschäftigt habe, dann bin ich nicht mehr völlig unvorbereitet. Selbst wenn ich eine Variante zunächst als unwahrscheinlich abgetan habe, werde ich doch sensibler sein für Signale, die darauf hindeuten, dass sie doch relevant wird.

Indem ich mich mit anderen über verschiedene Zukunftsszenarien austausche, kann ich Unsicherheit reduzieren. Ich erhalte wertvolle Einschätzungen, die vielleicht manches bestätigen und anderes herausfordern.

Viel wichtiger als die präzise Vorhersage ist, dass ich mich überhaupt einmal vom Alltag löse und mich genau hinschaue: Was passiert denn da draußen? Worauf muss ich mich einstellen? Damit ich einen Plan B und C in der Tasche habe. Das macht eine Organisation deutlich agiler. Wir haben z.B. überprüft, ob Unternehmen, die Foresight machen und es gewohnt sind, in Szenarien zu denken, sich besser auf die Corona-Krise einstellen konnten. Das hat sich bestätigt. Die wussten schon, dass man Plan A eben nicht immer durchsetzen kann und haben flexibler und proaktiv auf die Geschehnisse reagiert.

„Wir haben heute Märkte auf denen gilt: The winner takes it all.“

Dr. Melanie Wiener

Gibt es noch weitere Gründe, warum die Auseinandersetzung mit Foresight für Organisationen wichtig und lohnenswert ist?

Foresight gibt auch den Mitarbeiter*innen mehr Sicherheit. Es vermittelt das Gefühl, dass ein Unternehmen kein träges Schlachtschiff ist, das ewig zum Navigieren braucht. Sondern, dass es wendig genug ist, den Kurs – wenn notwendig – zu wechseln und wieder in stillere Gewässer zu gelangen.

Zudem können Unternehmen frühzeitig die richtigen Mitarbeiterinnen rekrutieren. Nicht erst, wenn der Trend schon voll da ist und der Fachkräftemangel voll zuschlägt. Wer frühzeitig nach vorne schaut holt sich die passenden Talente schon weit vor allen anderen und setzt die bestehenden Mitarbeiterinnen in die richtigen Schulungen.

Noch ein Punkt ist, dass wir heute Märkte haben auf denen gilt: The winner takes it all. Das bedeutet, dass sich der durchsetzt, der mit einer Sache zuerst auf den Markt ist. WhatsApp ist so ein Beispiel. Oder das iPhone. Die Nachfolger brauchen meist sehr lange bis sie nachziehen können – wenn es überhaupt gelingt.

Besonders wichtig ist Foresight für Unternehmen, die in einer kapitalintensiven Branche unterwegs sind. Warum? In kapitalintensiven Branchen werden Investitionen in Millionenhöhe getätigt, die sich erst über Jahre amortisieren. Wenn hier falsche Entscheidungen getroffen werden, hat das enorme Auswirkungen auf die Organisation.

In deiner Doktorarbeit hast du dich intensiv damit auseinandergesetzt, welche Werte in einer Organisationskultur eine Rolle spielen, damit Foresight erfolgreich gelingt. Was hast du herausgefunden?

Ich habe für meine Arbeit in zwei großen Firmen Kulturerhebungen durchführen dürfen und geschaut: Wie sind Unternehmen, die offen sind für Kollaborationen bei Foresight? Und wie sind jene, die eher nicht so gerne mit anderen zusammenarbeiten?

Was sich als hemmend erwiesen hat, sind alle Werte, die mit einer strengen hierarchischen Struktur einhergehen. Ganz einfach formuliert: Es ist kontraproduktiv, wenn ein engagierter und kreativer Mitarbeiter von einem Vorgesetzten zurückgepfiffen wird, wenn er eine unkonventionelle Idee hat. Dann gelingt keine disruptive Innovation. Dann wird das Alte nur nach und nach ein wenig verbessert. Stichwort: inkrementelle Innovation.

Damit man aber wirklich einen Durchbruch erzielen kann, braucht es genau diese Mitarbeiter*innen, die mutige, ungewöhnliche – ja, verrückte Ideen entwickeln. Sie müssen dafür Zeit und Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen. Und man benötigt eine Fehlerkultur, in der Menschen sich trauen, etwas auszuprobieren. Wo man versteht, dass jedes Scheitern auch eine Gelegenheit zum Lernen ist. Wo man die Loyalität und den Rückhalt im Team spürt. Und wo es genug psychologische Sicherheit gibt, um auch Verrücktes auszusprechen.

„Meiner Erfahrung nach ist es sehr wichtig, dass man dabei auch mit Branchenfremden spricht. Denn man selbst wird unglaublich schnell branchenblind.“

Dr. Melanie Wiener

Erzähl uns bitte mehr über Open Foresight! Wie sieht so eine Öffnung konkret aus?

Bei einem Open Foresight Projekt arbeiten mehrere Unternehmen für einen abgesteckten Zeitraum – z.B. ein Jahr – zusammen. Es finden mehrere Zukunftsworkshops statt, an denen 2-4 Personen je Organisation teilnehmen. Die diskutieren dann Trends und bauen ein Zukunftsradar auf, also eine Art Landkarte mit all den Trends die identifiziert wurden. Für jeden Trend wird im Zuge des Open Foresight Prozesses möglichst viel Zusatzinformation gesammelt, Expert*innen befragt und gemeinsam mit anderen Szenarien erarbeitet. So nutzt man eben das Wissen von anderen schlauen Köpfen für sich.

Wir wissen nicht, was uns erwartet. Aber es lohnt sich, darüber nachzudenken, was kommen könnte. (Foto: Unsplash/Emile Guillemot)

Gibt es noch viele Vorbehalte seitens der Unternehmen, sich so nach Außen hin zu öffnen?

Wichtig ist den meisten nur, dass es sich bei den Partnern nicht um direkte Konkurrenten handelt. Ansonsten erlebe ich die meisten Organisationen als sehr offen und neugierig.

Warum sollte man sich hier als Unternehmen externe Begleitung dazuholen?

Einerseits übernehmen wir mit proactive das Organisatorische, so dass sich die Teilnehmer*innen ganz auf die Zukunftsexpeditionen fokussieren können. Andererseits bringen wir frische Perspektiven ins Spiel. Wenn wir etwa bemerken, dass die Unternehmen nicht “out of the box” denken, dann challengen wir sie. Zum Beispiel indem wir Keynote-Speaker dazuholen, die dazu provozieren, wirklich über den eigenen Tellerrand hinaus zu denken.

Was fasziniert dich persönlich am Thema Foresight?

Ich bin einfach ein extrem neugieriger Mensch, der möglichst viel wissen will. Außerdem liebe ich den Austausch mit so vielen smarten Menschen. Das macht mir unglaublich viel Spaß!

Danke für das Gespräch!

Melanie Wiener ist als Postdoc am Institut für Strategisches Management der Johannes Kepler Universität (JKU) in Lehre und Forschung tätig. Parallel dazu ist sie für proactive als externe Partnerin bei verschiedenen Projekten tätig und berät Unternehmen hinsichtlich Foresight, strategisches Management und Circular Economy.


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